Viele von Euch wissen es sicherlich: Ich sitze in Dortmund im Stadtrat und halte mich entsprechend häufig im Rathaus auf.
Einige von Euch wissen sicher auch: Ich habe kein Auto und fahre daher mit der Bahn dorthin.
Und manche von Euch wissen vielleicht auch: Ich habe Kleingeld in der Tasche. Eigentlich immer. Weil es überall einen obdachlosen Menschen gibt, der das dringend gebrauchen kann.

Der Bereich um die Haltestelle „Stadtgarten“, also direkt am Rathaus, scheint bei Obdachlosen recht beliebt zu sein. Zumindest schaffe ich es nur sehr selten, die wenigen Meter von der Haltestelle zum Rathauseingang zurück zu legen, ohne angesprochen zu werden, ob ich vielleicht eine Zigarette oder etwas Kleingeld habe. Habe ich. So lange der Vorrat reicht.

Heute war mein Vorrat an Kleingeld schon aufgebraucht, ehe ich unten an der Haltestelle angekommen war. Und als ich dort stand und im Rucksack nach meinen Kopfhörern kramte, sprach mich ein Junge an. Vielleicht 16 Jahre alt, um die 1,75m, schmal, blaue Augen, dunkelblondes Haar. Eigentlich noch ein Kind und sicher niemand, der irgendjemandem Angst machen würde.

Er entschuldigte sich höflich, dass er mich ansprach, und fragte, ob ich vielleicht ein wenig Kleingeld für ihn übrig hätte. Er habe schon seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Ich entschuldigte mich, dass ich mein letztes Kleingeld gerade oben an der Tür einem anderen Herrn gegeben hätte, ihm aber natürlich noch viel Glück wünschen würde. Eine Antwort, die ich gerade im Winter viel zu oft geben muss, weil mich mehr Menschen ansprechen, als ich Geldstücke habe.

Wir wechselten noch ein paar freundlichen Worte, dann bedankte er sich und wandte sich anderen Menschen zu. Ich hatte mittlerweile auch meine Kopfhörer gefunden. Aber irgendwie nahm ich doch mit einem halben Auge und einem halben Ohr wahr, wie er eine Frau mit einem vielleicht fünfjährigen Mädchen ansprach, die ein Stück entfernt saß. Die gleiche freundlichen Ansprache wie zuvor bei mir. Und ihre Reaktion – ein quasi hingespucktes „Nä, ganz bestimmt nicht!“ Das kleine Mädchen sah seine Mutter mit großen Augen an.

„Ich habe schon seit zwei Tagen nichts mehr gegessen…“ ergänzte er leise. Und die Frau, die dort mit ihrem eigenen Kind saß, fing lautstark an, das fremde Kind vor ihr anzugiften. Dass sie es sicher nicht nötig habe, ihm zu helfen – er solle gefälligst nach Hause zu seiner Mutter geben. Seine Stimme zitterte, als er erwiderte: „Aber meine Mutter hat mich doch rausgeworfen…“ Und während sie lauter werdend anfing zu keifen, er sei selbst schuld in dieser Situation, schließlich gäbe es genug Hilfe für „solche wie dich“, fand ich mich auf einmal zwischen den beiden wieder, konnte mich gerade noch bremsen den fremden Jungen nicht einfach in den Arm zu nehmen, sondern legte ihm nur eine Hand auf die Schulter und sagte sehr, sehr laut (mehr zu ihr als zu ihm gewandt): „Lass dich nicht von solchen Arschlöchern fertig machen, sondern geh einfach. Sowas hast du nicht nötig!“ Sie sah mich mit genauso großen Augen an wie ihre kleine Tochter.

Der Junge zwang sich zu lächeln und ging weiter.

Und während ich also da stand und mich fragte, was für ein Vorbild diese Mutter wohl sein möchte und warum sich alle fragen, warum die Gesellschaft verroht, wenn selbst Kinder nicht mehr ihr Mitgefühl wecken können, sprach er weiter Menschen an. Viele ignorierten ihn. Manche schnaubten abfällig. Wenige sagten „nein“. Keiner gab ihm auch nur einen Cent. Keiner hatte ein freundliches Wort für ihn übrig.

Ich habe derweil in meinem Rucksack gesucht, ob ich wirklich kein Kleingeld mehr habe – oder wenigstens eine Waffel oder einen Schokoriegel…

Am Ende landete er wieder bei mir. „Danke, dass Sie mir gerade beigesprungen sind.“

Wir haben uns dann noch ein wenig unterhalten, sind gemeinsam ein paar Stationen in der Bahn gefahren. Er erzählte, dass ein Mensch im Anzug ihm noch nie etwas gegeben hätten. Dass er für die Obdachlosenunterkunft in der Adlerstraße zu jung sei (mal abgesehen davon, dass das Publikum dort auch gruselig sein kann), man habe ihn an den Jugendhilfedienst verwiesen. Beim Jugendhilfedienst habe man ihn an das Sleep In, die Obdachlosenunterkunft für Jugendliche verwiesen. Die sei aktuell zu ca. 100% überbelegt. Aber er habe genug Geld für eine 5-Minuten-Terrine zusammen – und sogar noch eine Pfandflasche.

Er bedankte sich sehr höflich für das Gespräch und ich wünschte ihm noch viel Glück für den Abend.

Kaum aus der Bahn gestiegen, wurde mir wieder bewusst, wie kalt es draußen ist. Und dass meine Jacke viel dicker als seine war.
Ich dachte an meine eigenen Kinder und stellte mir mit Grauen vor, dass andere Menschen ähnlich herzlos mit ihnen umgehen könnten, wenn sie einmal um Hilfe bitten.

Und auch jetzt, Stunden später, sitze ich noch hier und kann nicht anders, als mich zu fragen:

WAS STIMMT DENN NICHT MIT EUCH VERDAMMT NOCHMAL?!

Ich weiß ja, Obdachlose sind quasi unsichtbar.
Vielleicht glaubt Ihr, Ihr seid es auch, wenn Ihr sie ignoriert, nie ein Wort oder etwas Geld für sie habt, aber Ihr seid es NICHT.

Denn ICH sehe Euch.

Und ja, ich verurteile Euch dafür.

Ihr beweist damit, dass es Euch an Menschlichkeit und Mitgefühl fehlt, und stellt Euch selber ein Armutszeugnis aus.

Ja, ja, es ist ja sooo schlimm, dass sich keiner um die Obdachlosen kümmert. Also die Stadt zum Beispiel. Und die Stadt findet es schade, dass sich keiner um die Obdachlosen kümmert. Zum Beispiel der Bund. Aber keiner ist zuständig. Keiner will wirklich etwas tun. Oder gar selbst etwas abgeben.

Und so tut keiner etwas. Ihr auch nicht. Weil andere da ja wohl zuständig sind.

Aber falls Ihr es echt noch nicht gemerkt haben solltet: Es tut keiner etwas. Die anderen sind genauso scheiße und herzlos wie Ihr.

Während Ihr zu Hause sitzt und im Warmen diese Worte lest, übernachten dort draußen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt Menschen. Diese Menschen dort draußen haben Fehler im Leben gemacht. Aber das habt Ihr auch, oder etwa nicht? Bei Euch waren nur die Konsequenzen nicht so drastisch. Und so manches Mal habt Ihr sicher auch schon Hilfe gebraucht, um ein Problem oder einen Fehler wieder in den Griff zu bekommen.

Diese Menschen frieren. Sie haben Hunger. Vielleicht habt Ihr das auch schon einmal gefühlt. Das fühlt sich für diese Menschen nicht anders an. Sie müssen es nur viel länger fühlen an Ihr.

Ich begreife nicht, dass Ihr über den Westenhellweg pilgern könnt und shoppen gehen könnt, während an jeder Ecke Menschen sitzen, die nicht einmal ein Dach über dem Kopf haben. Ihr ignoriert sie, macht sie unsichtbar, als wäre es normal und ok, dass sie da sitzen und frieren. Das ist es nicht.

Und es ist nicht ok, dass Ihr so tut, als sei es das.

Aber mal ganz ehrlich:
Selbst in meinem Freundes- und Bekanntenkreis erlebe ich es nur selten, dass mal jemand ein wenig Geld gibt, ein paar Worte mit dem Menschen vor sich wechselt.

Und ja, auch bei Euch frage ich mich:

WAS STIMMT DENN NICHT MIT EUCH VERDAMMT NOCHMAL?!

Ich verstehe es nämlich wirklich nicht. Jeder von Euch hat so viel mehr als ein Mensch, der auf der Straße leben muss. Seht Ihr das denn tatsächlich nicht? Habt Ihr wirklich so wenig Mitgefühl? Seid Ihr wirklich so wenig bereit, ein paar Cent von Eurem Reichtum abzugeben?

Denn ganz ehrlich: Ihr lasst mich an der Menschheit zweifeln.

Ich für meinen Teil habe jedenfalls eine Waffel in meinem Rucksack gesteckt.

 

4 Kommentare

  1. Ich muss mich nicht einfach beschimpfen lassen. Und Personen, die man nicht kennt, und deinen Text lesen, als „scheiße“ zu bezeichnen, ist auch Teil der Verrohung. Manches Mal kann der Blick in den Spiegel helfen, bevor man einfach seine Umwelt angiftet. Das einiges im Argen ist, weiß jede oder jeder, die Frage ist doch nach der Lösung. Und dazu braucht es eben auch Fakten. Klar ist die Geschichte rührend, sie kann aber auch ganz anders sein. Vielleicht ist der Junge organisiert, wir wissen es nicht. Vielleicht hat er auch die staatliche Hilfe abgelehnt. Wir wissen es nicht. Ich hätte gegenüber der schimpfenden Frau ähnlich reagiert, aber vielleicht kann man auch darüber nachdenken, dass bei der großen Armut in der Stadt es für manche Bürger schwierig ist zu unterscheiden, wer wirklich bedürftig ist und wer eben ne Masche drauf hat. Und das ist wahrlich bei den liebsten und unschuldigsten Gesichtern manches Mal nicht leicht.

    1. Mir ist egal, ob jemand staatliche Hilfe verweigert hat. Wer das Leben auf der Straße vorzieht, muss einen (subjektiv) guten Grund haben, das zu tun. Man muss nichts leisten, um ein Recht auf’s überleben zu bekommen. Jedes Leben ist gleich viel wert. Auch ein obdachloser Mensch muss nicht erst etwas tun, um sich das zu erarbeiten.
      Und davon abgesehen: Die Einrichtungen SIND alle überbelastet. Ganz offiziell. Da ist kein Platz.
      Ich hoffe sehr für den Jungen, dass er organisiert ist. Das würde seine Überlebenschancen erheblich erhöhen.
      Ich maße mir nicht an, zu beurteilen, wer bedürftig ist. Wer der Meinung ist, sowas sei eine Masche, kann ja mal so lange seine Kleidung nicht wechseln und nicht duschen, bis er aussieht und riecht, wie man es eben als obdachloser Mensch tut. Und dann mal einen Tag bei dem Wetter draußen stehen, Leute ansprechen, sich beschimpfen lassen und dann abends einen Kassensturz machen. Wer dann zu dem Schluss kommt, dass sich das rentiert, kann ja dann seinen Job kündigen und mit „der Masche“ weiter machen…

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